COVID-19 und seine Langzeitfolgen: Arbeitsunfall oder Berufskrankheit?

Während die Pandemie langsam, aber sicher in eine endemische Phase überging, wird uns ein wichtiges Thema noch länger beschäftigen: Der Umgang mit COVID-19-Infektionen in der gesetzlichen Unfallversicherung. Insbesondere jene Versicherten, die nach einer COVID-19-Infektion von Langzeitfolgen, wie beispielsweise Erschöpfungszuständen, Konzentrationsschwäche oder Lungenschäden betroffen sind, stellen sich die Frage, ob sie dafür Leistungen aus der Unfallversicherung beanspruchen können. Letztlich geht es hier also darum, ob COVID-19 und seine Folgeerkrankungen als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall im Sinne der sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen zu qualifizieren sind. Im Gegensatz zur Krankenversicherung bietet die Unfallversicherung umfangreichere Leistungen zur Rehabilitation sowie insbesondere die zum Ausgleich einer geminderten Erwerbsfähigkeit in Folge einer Berufskrankheit bzw eines Arbeitsunfalls dienende Versehrtenrente.

Neben den oben genannten, sozialversicherungsrechtlichen Vorteilen hat der Dienstnehmer bei Vorliegen einer Berufskrankheit oder eines Arbeitsunfalls einen längeren Entgeltfortzahlungsanspruch wegen Dienstverhinderung gegenüber dem Dienstgeber. Im Falle einer Dienstverhinderung durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit stehen dem Dienstnehmer – unabhängig von sonstigen Dienstverhinderungen – pro Anlassfall (dh pro Arbeitsunfall bzw Berufskrankheit) acht bzw nach 15 Dienstjahren zehn Wochen volle Entgeltfortzahlung zu. Zudem gebührt der Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei „normalen“ Krankenständen pro Arbeitsjahr, während bei einem Arbeitsunfall bzw einer Berufskrankheit der Anspruch grundsätzlich auf den Anlassfall begrenzt und eine Ausnahme nur bei Folgeerkrankungen vorgesehen ist. Erleidet ein Dienstnehmer einen zweiten Arbeitsunfall, steht ihm daher ein neuer Anspruch in der gesetzlichen Höchstdauer zu, unabhängig davon, ob bzw wann er das letzte Mal Entgeltfortzahlung zum Beispiel auf Grund eines Arbeitsunfalls bezogen hat.

1. COVID-19 als Berufskrankheit

Als Berufskrankheiten gelten gemäß § 177 Abs 1 ASVG die in der Anlage zum ASVG (Anlage 1) bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage bezeichneten Unternehmen verursacht werden. Die Liste zählt taxativ auf, welche Krankheiten Berufskrankheiten im Sinne des ASVG sind. Eine Kausalitätsvermutung wird durch die Liste nicht aufgestellt.

Infektionskrankheiten werden in dieser Liste explizit genannt (Nr 38), worunter selbstverständlich auch COVID-19 zu subsumieren ist. Infektionskrankheiten sind aber nur dann als Berufskrankheit zu qualifizieren, wenn der Versicherte in einem der folgenden Unternehmen beschäftigt war und sich während der versicherungspflichtigen Beschäftigung angesteckt hat:

Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, Entbindungsheime und sonstige Anstalten, die Personen zur Kur und Pflege aufnehmen, öffentliche Apotheken, ferner Einrichtungen und Beschäftigungen in der öffentlichen und privaten Fürsorge, in Schulen, Kindergärten und Säuglingskrippen und im Gesundheitsdienst sowie in Laboratorien für wissenschaftliche und medizinische Untersuchungen und Versuche sowie in Justizanstalten und Hafträumen der Verwaltungsbehörden bzw in Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht.

Der Zweck der Anerkennung einer Infektionskrankheit bei bestimmten Beschäftigungen als Berufskrankheit besteht darin, jenen Personen einen Schutz zu bieten, die auf Grund ihrer Erwerbstätigkeit einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind. Wenn sich also zB ein in einem Krankenhaus beschäftigter Krankenpfleger bei der Arbeit mit COVID-19 ansteckt, liegt eine Berufskrankheit im Sinne des ASVG vor. Obwohl die Berufskrankheitenliste taxativ ist, enthält sie zusätzlich eine Generalklausel, wonach eine Berufskrankheit auch bei jenen Versicherten vorliegt, die in Unternehmen mit einer „vergleichbaren Gefährdung“ beschäftigt sind und sich während ihrer Beschäftigung mit einer Infektionskrankheit wie beispielsweise COVID-19 angesteckt haben. Unternehmen mit einer „vergleichbaren Gefährdung“ sind solche, in denen die Versicherten einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind.

Was genau unter dieser Generalklausel zu verstehen ist, lässt der Gesetzgeber unbeantwortet. Die Erweiterung der Infektionskrankheiten erfolgte als Reaktion darauf, dass der bestehende Unternehmensbegriff als zu eng erkannt wurde, weil Infektionskrankheiten auch in Unternehmen auftreten würden, die nicht in der Liste angeführt seien, in denen aber eine vergleichbare Gefährdung bestehe. Beispielhaft genannt werden in den Materialien der
„gesamte Bereich der Müllentsorgung“ der Labore, in denen nicht (wie in der Auflistung der Nr 38 gefordert) wissenschaftliche oder medizinische Untersuchungen durchgeführt werden. Es sei nicht zweckmäßig, die Liste um weitere namentlich angeführte Unternehmen zu erweitern, da das Risiko bestünde, dass der Unternehmensbegriff erneut zu eng sei. Vielmehr sollten alle anderen potentiell in Frage kommenden Unternehmen durch eine Generalklausel erfasst werden.

Nach Ansicht des OGH ist bei der Beurteilung, ob ein Unternehmen eine vergleichbare Gefährdung aufweist, nicht auf die konkrete Tätigkeit, sondern auf die generelle Gefährdung im Unternehmen abzustellen. Ob eine vergleichbare Gefährdung vorliegt, unterliegt laut OGH der rechtlichen Beurteilung.

Ein Beispiel, das immer wieder aufgegriffen wird, ist die Supermarktkassiererin, die sich während ihrer Beschäftigung mit COVID-19 infiziert. Da Supermärkte nicht in der oben genannten Liste angeführt sind, ist zu prüfen, ob es sich um ein „Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung“ handelt. Zweifelsfrei war das Personal in sogenannten „systemrelevanten Berufen“ wie das in Supermärkten während der Pandemie aufgrund des vermehrten menschlichen Kontakts im Vergleich zur Allgemeinheit einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Alleine daraus möchten einige den Schluss ziehen, dass ein Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung vorliege. Den Vergleichsmaßstab bilden aber nicht die Allgemeinheit, sondern die in der Liste der Berufskrankheiten aufgezählten Unternehmen. Auch beim zum Vergleich herangezogenen Unternehmen muss die Pandemie mitberücksichtigt werden.

Der Vergleich lässt sich wohl am besten mit den in der Berufskrankheitenliste genannten „öffentlichen Apotheken“ anstellen. War eine Supermarktkassiererin während der COVID-19-Pandemie einem vergleichbaren Ansteckungsrisiko ausgesetzt wie eine Apothekerin? Während in der Apotheke als Gesundheitsversorgungseinrichtung überwiegend kranke und daher auch mit COVID-19 infizierte Personen bedient werden mussten, war das Personal im Supermarkt im Vergleich zu Apotheken während der Pandemie wohl überwiegend mit gesunden Personen in Kontakt. Gerade in die Apotheke kommen jene Personen, deren Krankheit so weit fortgeschritten ist, dass sie medizinische Versorgung benötigen, während diese wohl eher selten auch noch einen Supermarkt aufsuchen (insb vor dem Hintergrund der kommunizierten Apelle, sich zu isolieren und zu Hause zu bleiben, wenn Krankheitssymptome auftreten, bzw sogar bei greifenden Ausgangsverboten und Quarantäneregelungen).

Auch wenn teilweise erkrankte Personen in den Supermarkt gehen, ist doch die Gefährdung nicht mit jener in einer Apotheke vergleichbar. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die öffentlichen Apotheken während der Pandemie ein wesentlicher Bestandteil der Infrastruktur für COVID-19-Testungen waren.  Alleine der intensive Menschenkontakt im Supermarkt vermag als Argumentation nicht genügen, zumal der OGH im Zusammenhang mit einem Sicherheitswachbeamten und einem Zollbeamten ausgesprochen hat, dass diese zwar mit vielen Menschen in Kontakt sind, aber überwiegend mit gesunden Personen zu tun haben und der Kontakt mit allenfalls Infizierten sich auf eine kurz eingegrenzte Zeit beschränkt. Einem solchem Risiko sind aber alle Erwerbstätigen ausgesetzt, die in intensivem ständigem Kontakt mit anderen Menschen stehen, wie beispielsweise die Supermarktkassiererin.

Bei der Beurteilung, ob ein Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung vorliegt, wird daher wohl ein eher strenger Maßstab anzulegen sein und sich eine solche Beurteilung auf Unternehmen mit gleichartigen Ansteckungsrisiken beschränken.

2. COVID-19 als Arbeitsunfall

Liegt eine Berufskrankheit nicht vor, weil die COVID-19-Infektion nicht im Zuge einer versicherten Tätigkeit in einem in der Berufskrankheitenliste aufgezählten Unternehmen bzw einem Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung erfolgt ist, kann das Vorliegen eines Arbeitsunfalls geprüft werden. Ein Arbeitsunfall ist ein Unfall, der in einem örtlichen, zeitlichen sowie ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht. Unter einem Unfall versteht man ein plötzliches bzw zeitlich eng begrenztes Ereignis, das von außen her schädigend auf den Körper einwirkt und damit zu einer Körperschädigung führt.

Nach der Judikatur wird der Unfallbegriff auch dann erfüllt, wenn der Körperschaden nicht durch ein einmaliges Ereignis, sondern über die Dauer längstens einer Arbeitsschicht oder eines sich auf mehrere Tage erstreckenden Dienstauftrages verursacht wurde. Es ist nicht notwendig, dass die Einwirkung auf den Körper innerhalb dieser Zeitdauer zu einer konkreten Manifestation der Gesundheitsstörung führt. Diese kann auch erst später eintreten. Der höchstgerichtlichen Rechtsprechung folgend können auch Infektionen als Arbeitsunfälle anerkannt werden. Beispielsweise wurde eine Hepatitis C-Infektion, die bei einer Plasmaspende erfolgte, als Arbeitsunfall eingestuft, da das schadenstiftende Ereignis nicht unbedingt ein mechanischer Vorgang sein muss, sondern – wie bei Krankheiten – auch ein chemo-physikalischer Vorgang sein kann. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass auch eine Hepatitis C-Infektion unbemerkt erfolgt und sich nicht innerhalb einer Arbeitsschicht entwickelt, sondern innerhalb von ungefähr sechs Monaten. Ebenso ist unbeachtlich, ob die gesundheitsschädigenden Folgen sogleich oder erst später eintreten. Sofern eine Infektion mit dem Virus daher aufgrund eines Kontaktes zu einer infizierten Person oder einem Cluster einer bestimmten Arbeitsschicht zugeordnet werden kann, kann auch eine COVID-19-Infektion als Arbeitsunfall eingestuft werden, dies unabhängig davon, ob die Infektion selbst unbemerkt erfolgt und die Gesundheitsschädigung erst später eintritt.

3. Der Anscheinsbeweis

Ob sich der Dienstnehmer während seiner versicherten Beschäftigung infiziert und damit eine Berufskrankheit oder einen Arbeitsunfall erlitten hat, ist nur schwer beweisbar. Daher gelten für sozialversicherungsrechtliche Ansprüche aus Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Regeln des Anscheinsbeweises. Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist. Der Anscheinsbeweis kann nur durch den Beweis, dass der typisch formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist, sondern dass die ernste Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes besteht, entkräftet werden. In Sozialrechtssachen wird nach ständiger Rechtsprechung der Anscheinsbeweis nur dann entkräftet, wenn dem atypischen Geschehensablauf zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit zukommt. Liegen zumindest zwei gleichwertige Möglichkeiten vor, ist der Anscheinsbeweis nicht gelungen.

4. Fazit

Grundsätzlich kann eine COVID-19-Infektion während der versicherten Tätigkeit sowohl eine Berufskrankheit als auch einen Arbeitsunfall darstellen und der Dienstnehmer Leistungen aus der Unfallversicherung beziehen. Auch der Entgeltfortzahlungsanspruch gegenüber dem Dienstgeber müsste mitberücksichtigt werden. Der Dienstnehmer muss aber beweisen können, dass die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung im privaten Umfeld geringer ist, als die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung während der versicherungspflichtigen Tätigkeit.

Dieser Anscheinsbeweis wird aber praktische Schwierigkeiten mit sich bringen, zumal insbesondere in Pandemiezeiten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung während der Beschäftigung nur schwer dargelegt werden kann.